Paul Desmond und sein kanadisches Quartett

Mosaic brachte die kompletten Live-Aufnahmen von 1975 heraus

Paul Desmond hatte sich nach der Auflösung des Dave Brubeck Quartetts 1967 weitgehend zurückgezogen. Die Tantiemen seines Superhits „Take Five“ und der Platten der Brubeck-Gruppe gestatteten ihm ein komfortables Leben als Privatier. Natürlich trat er manchmal auf. Gelegentlich erschienen Platten unter seinem Namen oder er bereicherte als Sideman zum Beispiel Sessions von Chet Baker oder Jim Hall. Einem anstrengendem Tourleben mochte sich dieser Poet des Altsaxophons nicht mehr aussetzen.

Besuch in Toronto

1975 kam eine Anfrage aus Kanada. Man wollte ihn für eine Reihe von Auftritten im Club „Bourbon Street“ in Toronto verpflichten. Desmond zögerte erst und überlegte dann, ob er mit dem Gitarristen Jim Hall, der auf einigen seiner Platten sein Partner war, das Angebot annehmen sollte. Hall war verhindert und empfahl Desmond den kanadischen Gitarristen Ed Bickert. Der schüchterne Desmond nahm an, reiste nach Toronto und traf dort auf die für die Auftritte ausgesuchten drei kanadischen Musiker. Ohne Proben begann das Quartett das Engagement. Die Musiker passten ideal zu dem sensiblen Desmond, dessen Ziel es nach eigenen Worten war, sein Instrument „wie einen trockenen Martini“ klingen zu lassen. Nun – 45 Jahre nach dem Engagement – liegen die Aufnahmen der Band komplett vor.

Das Cover der Mosaic-Box, Foto: T. Geese

Ed Bickert – Wundergitarrist aus Kanada

Gitarrist Ed Bickert begeisterte Desmond so sehr, dass er sich – zurück in New York – stark für ihn einsetzte und ihn bei der gemeinsamen Studioproduktion „Pure Desmond“ besonders herausstellte. Bickert war ein Gitarrist, der jeden Standard kannte und dessen reiches Akkordspiel ebenso wie seine weichen Sololinien verblüffen. Dabei spielte er keine halbakustische Gitarre, sondern ein „Brett“ (eine Fender Telecaster)! Er war ein Bill Evans der Jazz-Gitarre.

Don Thompson – Bassist und Tonmeister

Bassist Don Thompson (er ist der einzige heute noch lebende Musiker der Band) ist ein Multiinstrumentalist, der auch hervorragend Piano und Vibraphon spielt. Desmond gab ihm in jedem Stück ein Solo. Thompson spielte ideenreich Melodien, die niemals langweilen. Außerdem ließ er bei jedem Auftritt sein Vier-Spur-Tonbandgerät mitlaufen. Als begabter Tonmeister konnte er so diese Traummusik für die Ewigkeit zu konservieren.

„Just A Little Tinky-Boom“

Desmond war sehr wählerisch, was Schlagzeuger betraf. Wie Lester Young wollte er nicht, dass hinter ihm Bomben explodierten. „Just a little tinky-boom“, wie Young sagte, sollte die Begleitung sein. Als Dave Brubeck gegen den energischen Widerstand Desmonds den Meister-Schlagzeuger Joe Morello für sein Quartett verpflichtet hatte, drehte sich der Saxophonist bei einem der ersten Konzerte zu Morello um und sagte: „Don‘t do adventures behind me!“ (Beide wurden später enge Freunde.)

Jerry Fuller – Der ideale Drummer für Paul

Jerry Fuller im kanadischen Quartett entsprach dem Ideal Desmonds von einem Schlagzeuger: Immer sensibel, leise, sich in jede Situation einfühlend, auf die Solisten reagierend und dabei hart swingend. Fuller spielt nicht ein Solo, es kommt nicht einmal zu viertaktigen Wechseln mit den Solisten. Er zeigt seine Meisterschaft in der Begleitung, voller Ideen, abwechslungsreich, inspiriert, voller Gefühl und Geschmack. (Im Vertrauen: Wenn ich so spielen könnte, so würde ich spielen wollen.)

Die Mosaic-Box “ Paul Desmond – The Complete 1975 Toronto Recordings“

Mosaic versammelt auf sieben CDs die Aufnahmen Desmonds aus Toronto. Natürlich werden einige Stücke mehrfach gespielt. Das macht aber nichts. Die meisterlichen Interpretationen machen durchweg Freude. Besonders interessant ist CD Nr. 6: Weil Bickert aus familiären Gründen ein paar Tage nicht zur Verfügung stand, vertrat ihn der Ventil-Posaunist Rob McConnell (der Leiter der berühmten Big Band „The Boss Brass“). Ohne vorherige Probe ist ein Zusammenspiel der beiden Bläser zu erleben, das an die Arbeit von Desmond mit Gerry Mulligan erinnert: Kontrapunktisches Musizieren bei Stücken wie „My Funny Valentine“ oder „Line For Lyons“. Die Stücke mit Rob McConnell waren bisher unveröffentlicht. Lediglich 19 der insgesamt 51 Stücke erschienen in der Vergangenheit auf drei Alben.

Die erste Veröffentlichung von 1976 bei Horizon, Foto. T. Geese

Die Mosaic-Box hat wie immer ein attraktives Beiheft mit Fotos und Liner Notes von Don Thompson, dem Jazz-Historiker Thomas Cunniffe und des Desmond-Freundes und -Biografen Doug Ramsey.

Das ist das Cover der von Doug Ramsey geschriebenen Biografie. Ein wunderbares Werk! Eine Unmenge Fotos des Privatmannes Paul Desmond, viele Interviews mit Zeitgenossen, persönliche Erinnerungen des Autors und eine um Vollständigkeit bemühte Diskographie machen das über 370 starke Buch zu einem Schatz. Foto: T. Geese

Die Tonqualität der CDs ist hervorragend. Das Remastering erfolgte mit den Originalbändern von Don Thompson.

Dieses Video zeigt eine komplette Sendung eines kanadischen Senders über Paul Desmond und sein Quartett. Außerdem gibt es ein ausführliches Interview mit „Sweet Paul“. Das Video ist Thomas Cunniffe zu verdanken, der auch einen Teil der Liner Notes der Mosaic-Box verfasst hat.

Paul Desmond – Lyriker des Altsaxophons

Ich habe mal einen Artikel im Jazz Podium gelesen, in dem Desmonds Altsaxophonspiel als „eindimensional“ bezeichnet wurde. Darüber habe ich mich damals geärgert. Wenn das „eindimensional“ jedoch beschreibend und nicht wertend gemeint ist, meinetwegen. Denn tatsächlich hat Paul Desmond immer seinen (!) Stil gepflegt. Von Charlie Parker war bei ihm nichts zu hören, allenfalls klingt er vom Ton her ähnlich wie Lee Konitz. Die Lyrik in seinem Spiel ist ohnegleichen. Es gibt niemanden, der annähernd wie er spielte.

Paul Desmond starb zwei Jahre nach den Toronto-Auftritten am 30. Mai 1977 an Lungenkrebs. Er wurde 52 Jahre alt. Die Rechte an „Take 5“ und damit die nach wie vor sprudelnden Tantiemen vermachte er dem Amerikanischen Roten Kreuz.

4 Antworten auf „Paul Desmond und sein kanadisches Quartett“

  1. Hallo Thomas,
    danke für deinen tollen Artikel über Desmond, der auch einer meiner „Helden“ ist – und den ich immer wieder auflege. Der Ton ist magisch, werde sofort ruhig und entspannt, wenn ich sein Sax höre. Ein „Zaubersax“. Hab die Live-Aufnahme, unzählige LP`s (First Place Again ist one of my favorites, neben Take Ten und Easy Living, – alles noch mal auf CD – was Verrückte eben so tun, wusste aber nicht, dass es eine Mosaic Aufnahme gibt zu den Toronto Sessions gibt. Wieder was dazu gelernt. Hoffe es geht dir gut – werde mich immer mal wieder auf deine Seite schalten
    Liebe Grüße
    Uli Driller

    1. Lieber Uli,
      vielen Dank für Dein Feedback. Schön, dass Deine Freude an Paul Desmond so groß ist wie meine. Leider wird derartige Musik heute kaum noch gepflegt. Ich hoffe, wir sehen uns bald mal.

      Viele Grüße und –
      keep swinging!

      Thomas

  2. Guten Tag, zufällig bin ich auf die Ankündigung des Mosaic-Sets und Ihren Artikel gestoßen – beides läßt mich kaum noch schlafen, der Artikel ist wunderbar gelungen…!
    Wissen Sie, wo ich das Mosaic-Set bekomme? Wenn man das Paket in den USA bestellt, bleibt es meist beim Zoll hängen und kostet ärgerliches Mehrgeld.
    Dann sah ich noch eine Ankündigung: P. D., Dream Dancing, eine Zusammenstellung von 24 Titeln bei Nagel-Heyer Records. Ist das „nur“ ein streaming-Angebot oder auch eine CD?
    Ich „liebe“ Desmond seit mehr als 40 Jahren und würde jeden zusätzlichen Ton kaufen…!
    Beste Grüße, Andreas

    1. Lieber Andreas,
      vielen Dank für Ihren Kommentar.
      Ich habe die Box direkt bei Mosaic-Records bestellt. Das geht auch nicht anders. Den Zoll (Einfuhrumsatzsteuer) hatte ich einkalkuliert, es fielen jedoch keine zusätzlichen Kosten an. Vielleicht haben Sie auch Glück.
      Die Zusammenstellung „Dream Dancing“ ist m. A. nach keine CD, sondern ein Streaming-Sampler. Nichts Neues.

      Herzliche Grüße,
      Thomas Geese

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