In diesem Blog habe ich bereits über Scott Hamilton geschrieben. Ähnlich wie „The Great Scott“ kultiviert der zwölf Jahre jüngere Harry Allen die Kunst des swingenden Spiels am Tenorsaxophon. Beide Saxophonisten ähneln sich stilistisch, weil sie aus den selben Quellen schöpfen.
Mainstreamer abseits aktueller Trends
Es scheint so, als führten sie die Kunst derjenigen Saxophonisten fort, die sich in den fünfziger Jahren unmittelbar auf Lester Young beriefen wie Stan Getz, Zoot Sims, Al Cohn oder Richie Kamuca. Joachim-Ernst Berendt nannte diese Ausrichtung früher „Basie-Young-Klassizismus“. Beide ergänzen das mit dem voluminösen Sound der Heroen des Tenors wie Coleman Hawkins, Ben Webster oder Don Byas.
Hamilton wie Allen fielen als blutjunge Musiker aus der Zeit, als sie die Jazzszene betraten. Nicht an John Coltrane oder Wayne Shorter, nicht an Freejazz, Jazzrock und Fusion orientierten sie sich, sondern an Swing und Bop. Die Verschmelzung dieser Stile nennt man seit den Fünfzigern „Mainstream Jazz“. Heute wird Jazz mit einem swingenden Groove häufig als „Straight Ahead Jazz“ bezeichnet. An anderer Stelle habe ich meine Besorgnis darüber ausgedrückt, dass diese Spielformen des Jazz immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.
Vorbilder: Paul Gonsalves und Scott Hamilton
Doch nun zu Harry Allen. Harry wurde 1966 in Washington, D.C., geboren. Er wuchs in Los Angeles und Rhode Island auf, lernte zuerst Akkordeon, dann Klarinette und Tenorsaxophon. Sein Vater – ein Big Band Schlagzeuger – spielte schon dem kleinen Harry täglich Jazzplatten vor. Der Ellington-Tenorstar Paul Gonsalves war ein Freund der Familie. Mit 13 hörte Harry Allen eine Platte von Scott Hamilton, was ihn dazu inspirierte, selbst Tenor im Mainstream-Stil zu spielen. Nach einem Studium an der Rutgers University betrat er 1988 mit vollständig entwickelter Stilistik und mächtigem Sound die Jazzszene. Schnelle Stücke interpretiert er ebenso ideenreich und kultiviert wie Balladen. Wer sich von letzterem überzeugen möchte, höre sich die CD „Love Songs Live“ an. Hinreißend! Er machte eine Vielzahl von Aufnahmen, die in seiner Heimat, in Europa und in den 90ern vor allem in Japan erschienen. Wie sein Vorbild Scott Hamilton macht er als Solokünstler Tourneen, die ihn in Europa mit verschiedenen Bands zusammenführen, denen er seit langem verbunden ist. In Deutschland spielt er oft mit dem Martin-Sasse-Trio.
Viele Jahre: Das „Harry Allen – Joe Cohn Quartet“
In New York unterhielt er über viele Jahre ein gemeinsames Quartett mit dem Gitarristen Joe Cohn (der Sohn des berühmten Tenoristen Al Cohn). Einige CDs dokumentieren diese überaus fruchtbare Zusammenarbeit.
Die „New York Saxophone Band“ unter Leitung von Harry Allen
Gern arbeitet er mit anderen Saxophonisten zusammen. Natürlich mit Scott Hamilton oder auch mit einer Formation von Saxophonisten, die angelehnt ist an die berühmte Four-Brothers-Section des Woody Herman Orchestras mit drei Tenoristen und einem Bariton. Mit diesen Kollegen nahm er 2016 die CD „The Candy Men“ auf, für die er auch die meisten Arrangements beisteuerte. Hier ist die „New York Saxophon Band“ live zu sehen (v.l.n.r. Eric Alexander, ts, Grant Stewart, ts, Harry Allen, ts, Gary Smulyan, bs):
Es ist unmöglich, aus seinen über 60 Aufnahmen unter eigenem Namen besondere hervorzuheben. Wie bei Scott Hamilton gilt: Schwache Leistungen von ihm gibt es nicht.
Harry Allen und Scott Hamilton gemeinsam:
Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass Harry Allen von der Braunschweiger Jazzinitiative für ein Konzert verpflichtet wird und bin glücklich (und der Initiative dankbar), dass er mit dem großartigen Martin-Sasse-Trio am 15.11.2024 in Braunschweig, Roter Saal, auftreten konnte. Das war ein Fest des swingenden, modernen Jazz ohne Schnickschnack.
Das „Harry Allen – Martin Sasse Quartett“ in Braunschweig, Roter Saal, am 15.11.2024.
v. l. n. r.: Martin Sasse, Martin Schieferdecker, Harry Allen, Joost van Schaik. (Foto: T. Geese)