Bitte mehr Straight-Ahead-Jazz!

– oder: Jazzpolizei auf Streife

Blicke ich über die Jahre auf das Programm des wichtigsten Veranstalters für Jazzkonzerte in unserer Region, der Initiative Jazz Braunschweig e. V., sehe ich eine sehr gut kuratierte Abfolge von Konzerten zeitgenössischer Spielformen dieser ursprünglich in den USA entstandenen Musik. Viele der Konzerte haben mich nachhaltig beeindruckt. Manche haben mich enttäuscht. Aber es kann einem ja auch nicht alles gefallen.

Allerdings fehlen mir Auftritte von Bands, die modernen, swingenden Jazz anbieten. Mehrfach habe ich in Gesprächen mit Aktiven aus der Initiative meinen Wunsch formuliert, doch auch ab und zu einmal „Straight Ahead Jazz“ hören zu wollen. Dieser Begriff, obwohl seit Jahrzehnten in die Welt der afro-amerikanischen Musik eingeführt, ist jedoch vielen gar nicht geläufig. Bevor ich also meine Sorgen zum Ausdruck bringe, versuche ich hier eine Erklärung, die sich auch aus Definitionen ableitet, die im Internet oder auch in der Literatur zu finden sind.

Was ist „Straight-Ahead-Jazz“?

Allmusic.com“ gibt eine recht ausführliche Auskunft dazu und kommt zu dem Ergebnis, dass Straight-Ahead-Jazz kein homogener Stil sei. Straight-Ahead-Musiker können danach von jeder Form des Jazz bis einschließlich der 60er Jahre beeinflusst sein, sogar einschließlich des frühen Avantgarde-Jazz. In diesem Sinn habe Straight-Ahead-Jazz viel gemein mit Post-Bop.
Es gebe einige gemeinsame Prüfsteine, denen die Musikerinnen und Musiker des Straight-Ahead-Jazz folgen: Eine Betonung auf swingende Rhythmik, auf Bluesformen mit „Call and Response“ und ein starkes Vertrauen ebenso in das Great American Songbook wie in Bop- und andere Jazz-Standards.
Ich würde noch das hinzuzählen, was man lange als modernen „Mainstream-Jazz“ bezeichnete.

Weitere Kriterien zur Abgrenzung von anderer Stilistik sind der Verzicht auf elektrische Instrumente wie wir sie aus der Fusion Musik kennen, Rockrhythmen und die völlige Auflösung des Beats wie im kompromisslosen Free Jazz.

Kurz: Moderner, swingender amerikanischer Jazz

Sehr vereinfacht könnte ich das Ganze „modernen, swingenden amerikanischen Jazz“ nennen, was nicht bedeutet, dass nur Amerikaner ihn spielen müssen.

Beispiele für Straight-Ahead-Jazz aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit: Pat Martino, Eric Alexander, Vincent Herring, Chico Freeman, European Jazz Ensemble, Woody Shaw Quintet, Elvin Jones Jazz Machine, die Bands von Phil Woods, Scott Hamilton, Charles Lloyd, Keith Jarrett Standards Trio, Joe Lovano (meist), Dave Holland, Tom Harrell, Branford und Wynton Marsalis, das Lincoln Center Jazz Orchestra, Harry Allen, Alan Barnes

Diese wenigen Beispiele zeigen hoffentlich, dass es sich bei bei meinem Anliegen nicht um die antiquierten Sehnsüchte eines alten weißen Mannes handelt, der bei Benny Goodman stehen geblieben ist.

Swingen erwünscht!

Ich habe inzwischen den Eindruck, dass ich mich für swingenden Jazz einsetzen muss. Ist das nicht absurd? Er ist doch die Quelle dessen, was uns als zeitgenössisch präsentiert wird! Bei Konzerten kommt es mir manchmal so vor, als würde der Schlagzeuger böse Blicke des Bandleaders ernten, wenn er beginnt, einen swingenden Groove zu spielen. Sofort aufhören: Swingen verboten!

Es gibt sie, die Musikerinnen und Musiker und Clubs, verteilt in Europa (selbst in Skandinavien, das heutzutage den europäischen „Jazz“ zu dominieren scheint), die sich um die swingenden Formen des Jazz bemühen. Seit ein paar Jahren zum Beispiel gibt es in Köln einen Jazzclub („King Georg“), der sich der Präsentation von Straight-Ahead-Jazz verschrieben hat. Ist es soweit, dass wir den Kern des Jazz beschützen müssen?

Es gibt ein Publikum dafür: Bedient es bitte!

Im Oktober 21 habe ich mich mit einem Freund nach Hamburg aufgemacht, um im Jazzclub „Birdland“ das Martin Sasse Trio mit dem Tenorgiganten Scott Hamilton zu erleben. Im ausverkauften Haus kamen wir mit mehreren Enthusiasten in Gespräch, die ebenfalls längere Anreisen angetreten hatten, um swingenden Jazz auf Topniveau zu hören. Es gibt das Publikum dafür. Menschen, die Freude an Interpretationen großer Songs haben, die die melancholische Schönheit von Balladen schätzen oder vor Vergnügen fast platzend die rasanten Improvisationen über Bop-Klassiker bewundern.

Veranstalter, die nur das Neue im Blick haben, ignorieren dieses Publikum und die lebendige Tradition des (modernen) Jazz.

Ich wünsche mir von Herzen in meiner Heimatstadt swingenden Jazz erster Qualität. Wenigstens ab und zu. Die „Baßgeige“ hat die Fackel des Jazz viele Jahre am Lodern gehalten. Ihr Niedergang in den letzten Jahren mit Bolles schwerer Erkrankung und schließlich seit seinem Tod schmerzt mich zutiefst. Die Tendenz der Jazzinitiative zu einem Konzertprogramm für Intellektuelle besorgt mich.

Geringen Trost bieten Veranstalter in der Umgebung, die es mitunter wagen, modernen swingenden Jazz anzubieten: die „Bischofsmühle“ in Hildesheim, neuerdings der Kirchbauverein St. Georg Wendessen e.V. und – nicht zu vergessen – die Autostadt in Wolfsburg, die in pandemiefreien Zeiten immer wieder attraktive Angebote machte.

Vielleicht liege ich ja auch ganz falsch. Über Beiträge zur Diskussion würde ich mich freuen.

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