Die kurze Karriere des „Heiligen“
„Eric Dolphy ist ein Heiliger, in jeder Beziehung!“, sagte Charles Mingus, in dessen Band der Multiinstrumentalist einige Zeit spielte. Alle Zeitgenossen schildern Dolphy als überaus liebenswürdigen, hilfsbereiten Charakter, der sich von Drogen, Alkohol und Nikotin fernhielt. Als er selbst wegen mangelnder Auftrittsmöglichkeiten Hunger litt, unterstützte er Kollegen, denen es noch schlechter ging als ihm.
Seine Karriere war kurz. Er war 1928 geboren und in Los Angeles aufgewachsen. Sein Vater hatte ihn gefördert, so dass er früh begann, Klarinette zu lernen und schließlich das Altsaxophon, die Flöte und die Bassklarinette dazunahm. Auf allen diesen Instrumenten entwickelte der unermüdlich Übende Meisterschaft. In LA sammelte Dolphy Erfahrungen in den Bop-geschwängerten Bands von Roy Porter, Buddy Collette und Gerald Wilson. Bekannt wurde er in der kammermusikalisch ausgerichteten Gruppe des Schlagzeugers Chico Hamilton. Hamilton gab ihm alle solistischen Freiheiten, die der erstklassig ausgebildete Dolphy nutzte. In dem berühmten Film über das Newport Festival 1958 „Jazz On A Summer’s Day“ ist das Hamilton Quintett mit Eric zu sehen und zu hören. Dolphy, der bereits viele New Yorker Musiker in LA kennengelernt und sich unter anderem mit John Coltrane angefreundet hatte, ging 1958 als reifer Künstler in die Metropole des Jazz. Dort bekam er schnell einen Vertrag bei Prestige/New Jazz, nahm zahlreiche Platten unter seinem Namen auf und bereicherte als Sideman richtungsweisende Alben anderer Größen. Seine umfassende musikalische Ausbildung machte es ihm möglich, auch an Third-Stream-Projekten (einer Kombination von Jazz und „ernster“ Musik) mitzuwirken. Sieht man im Rückblick auf die große Zahl seine Aufnahmen zwischen 1958 und 1964, ist es kaum vorstellbar, dass er trotzdem Probleme hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein Lichtblick war sicher sein Engagement als zweiter Bläser in der gut beschäftigten Band von John Coltrane, mit dem er 1961 spielte und auch Europa bereiste.
Wegbereiter der Avantgarde
Sein ungewöhnlicher Stil war unter Kritikern so umstritten wie in der Avantgarde-Szene geschätzt. Dolphy war vom Bebop beeinflusst und bewegte sich harmonisch sehr frei, wobei sein Spiel durch Intervallsprünge oftmals über mehrere Oktaven reichte. Dabei erinnerte er tonal an menschliches Geplapper oder Vogelgezwitscher. Sicher war er ein Wegbereiter des Free Jazz. An der gleichnamigen berühmten Platte von Ornette Coleman war Dolphy maßgeblich beteiligt.
1964 entschloss sich Eric Dolphy nach einer Europa-Tournee mit Charles Mingus nach Europa überzusiedeln. Paris als damalige Hauptstadt des Jazz in Europa sollte sein Lebensmittelpunkt werden. Doch nach viel versprechendem Beginn starb er plötzlich 29. Juni 1964 in Berlin an den Folgen eines nicht diagnostizierten Diabetes.
Posthum: „Out to Lunch“
Seine berühmteste Platte, das Meisterwerk „Out to Lunch“ (Blue Note), erschien erst nach seinem Tod. Wenn auch sein Einfluss auf die Entwicklung des neuen Jazz immens war, sind seine stilistischen Eigenheiten nur bei wenigen Nachfolgern unmittelbar zu spüren. Der Tenorsaxofonist Bennie Wallace war stark von ihm beeinflusst, und jeder Bassklarinettist muss sich noch heute an Dolphy messen lassen.