Scott Hamilton – Keeper of the Flame

Zuallerst gestehe ich meine Scham, resultierend aus abstoßender Borniertheit. Als Scott Hamilton in der zweiten Hälfte der 70er Jahre als blutjunger Tenorist in New York für Furore sorgte, lehnte ich ihn ab. Als der Grünschnabel, der ich war, konnte ich nicht verstehen, wie ein Youngster Swing der Vorväter spielte. Jazz, gespielt von Musikern der jüngeren Generationen hatte doch fortschrittlich zu sein, also neue Türen aufzustoßen. Die älteren Stile – von mir immer geliebt und respektiert – sollten gefälligst deren Protagonisten interpretieren. Au weia, sage ich heute: Das war ziemlich ignorant. So habe ich etliche Jahre gebraucht, um meine Vorurteile gegen junge Bewahrer wie Wynton Marsalis oder eben Scott Hamilton beiseite zu schieben. Mea culpa …

Great Scott

Diese Dokumentation unter dem Titel „Great Scott“ zeichnet im Gespräch mit Scott Hamilton seine Karriere nach und beweist meine Dummheit.

Diese Dokumentation fußt auf einem ausgiebigen Interview mit Scott. Man erfährt viel über das Leben von Jazzmusikern.


Elder Statesman

Inzwischen bin ich Fan von Scott Hamilton, der längst ein Elder Statesman des swingenden Jazz ist. Im Oktober 2021 hatte ich endlich das Vergnügen, ihn im Birdland in Hamburg live zu hören und zu sehen. Das war ein Abend, der mir seitdem täglich präsent ist. Die unglaubliche Entspanntheit, Autorität und Reife, mit der Hamilton Swing- und Bop-Standards interpretiert, ist verblüffend. Sein Balladenspiel ist zum Niederknien. Scott Hamilton ist ein Meister, einer der ganz großen Improvisatoren des Jazz.

Scott Hamilton mit dem Martin Sasse Trio

Scott, der seit vielen Jahren in Europa lebt, scheint in jedem Land eine oder sogar mehrere Bands zu haben, die Freude daran haben mit ihm zu spielen. So reist er allein und trifft auf seine Partner. In Deutschland ist das meist das Trio des Pianisten Martin Sasse. In Barcelona ist er ein gern gesehener Gast der Sant Andreu Jazz Band des bedeutenden Jazz-Pädagogen Joan Chamorro. Viele Videos zeugen davon.

Es gibt zahlreiche Videos, die Scott mit den Bands von Joan Chamorro zeigen.


Platten, Platten, Platten

Laufend kommen Plattenaufnahmen mit ihm auf den Markt. Jahrzehntelang war Hamilton ein Star des amerikanischen Concord-Labels. Seitdem er dort nicht mehr vertraglich gebunden ist, reißen sich unabhängige europäische Labels offenbar darum, mit ihm zu produzieren. Ähnlich war es ja früher mit Lee Konitz oder David Murray. Auch bei ihnen kam die Frage auf, ob das nicht zu viel sei, ob darunter nicht die künstlerische Qualität leide.
Bei Scott heißt es, von ihm gebe es keine schlechten Platten. Ich finde das auch. Allerdings ähneln sich die Aufnahmen stilistisch sehr. Neues darf man nicht erwarten. Aber das ist auch nicht das Ziel dieses Meisters, der über ein riesiges Repertoire verfügt.

Scott mit der Band der Pianistin (und Sängerin) Dena DeRose

Und nun spielt der Tenor-Gigant „Classics“

War das bisher die Welt der Standards des Jazz und des American Songbooks, sind es auf seiner (vermutlich) neuesten Produktion mit dem Namen „Classics“ Titel und Themen aus der europäischen Klassik. Als ich meinem Freund Christoph Hoffmeister von dieser Aufnahme mit Scotts skandinavischer Band erzählte, vermutete er, es sei ähnlich wie „Play Bach“. (Es zeigt sich einmal mehr: Über Musik sprechen ist unmöglich, das ist so – nach Steve Martin – wie „über Architektur zu tanzen“.) Nein, die Motive oder Stücke aus Werken von Rachmaninoff, Ravel, Rubinstein oder Lehar hören sich an wie Kompositionen aus dem Jazz-Repertoire. Ein Meisterwerk, über das sogar die Zeitschrift Jazz thing im vergangenen Sommer berichtete. Ansonsten wird Hamilton nämlich von der deutschen Jazzpresse ignoriert. Hat das dieselben Gründe, die mich vor 50 Jahren in die Irre führten? Oder swingt die Musik einfach zu stark? Man weiß es nicht.

Hier sind Ausschnitte aus den „Classics“ zu hören.

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